Ein Untoter, der Ferdinand heißt, kann so böse nicht sein. Und in der Tat entspinnt der Franzose Joann Sfar mit den vier Episoden aus „Vampir“ kein klassisches Monsterdrama. Statt animalischer Lust und literweise Blut bestimmen lange Gespräche und zaghafte Annäherungsversuche zwischen dem Vampir Ferdinand und seinen Angebeteten den Comic. Da sich die Geschichten zudem auf kleinem Raum innerhalb eines engen Bekanntenkreises von Fabelwesen abspielen, fühlte ich mich bei der Lektüre an amerikanische Sitcoms wie Friends und How I met your Mother erinnert, deren Kernmerkmale auch „Vampir“ trägt: Liebe, Freundschaft und eine rigide Beschränkung von Handlung, Zeit, Cast und Set.
Verliebt in Vilnius: Zeit und Handlung
Im Gegensatz zu Klassikern der Vampirerzählung, wie Dracula (Bram Stoker), Nosferatu (Murnau) oder Interview mit einem Vampir (Anne Rice), stehen bei „Vampir“ (Französisch: Grand Vampire) die eher harmlosen Liebesgeschichten von Ferdinand im Vordergrund. Schon die erste Geschichte (Amor Pfeift Drauf) beginnt mit einer Beziehungskiste: Die Dryade Liou will nach einem Seitensprung wieder mit Ferdinand zusammenkommen. Da sie jedoch keine Reue zeigt, kommt es zum Streit. Auch wenn Sfar die Figuren und die Umgebung mit reduziertem Strich und viel Schatten optisch in die Nähe von Murnaus Nosferatu rückt, wirkt der Dialog zwischen Ferdinand und Liou wenig fantastisch. Nicht verzehrende Lust und gestelzte Bühnenmonologe, sondern Situationskomik und Alltagssprache bestimmen den Schlagabtausch. Diesem Muster folgen auch die übrigen Episoden von „Vampir“. Während der Vampir bei Bram Stoker & Co. droht, die Gesellschaft wie eine Krankheit zu befallen, wirkt Ferdinand fast vegetarisch: „Ich beiße nur mit einem Zahn zu, damit es wie ein Mückenstich aussieht.“ (S. 16) Seine Opfer zu töten kommt für ihn nicht in Frage. Im Fokus der Erzählung stehen eher Vampir-untypische Themen, wie normale Lieb- und Freundschaften. Auch ist ohne die Klimax-fixierte Dramaturgie klassischer Monstergeschichten der Weg frei für zirkulierende Erzählformen, wie wir sie aus Sitcoms kennen. Die Prämisse der Erzählung bleibt in den vier Episoden dementsprechend immer gleich: Der alleinstehende Ferdinand ist – ähnlich wie Ted Mosby in How I met your Mother – ständig auf der Suche nach der richtigen Frau für die Ewigkeit.
Stadt der Monster: Ort und Zeit
Was das Wohnzimmer oder das Café Central Perk für Friends ist, das ist Vilnius für „Vampir“. Die Handlung konzentriert sich im Wesentlichen auf die Hauptstadt von Litauen, mit ihren Friedhöfen, Parks und Klubs sowie auf den dunklen Wald und das Schloss von Ferdinand. Dies hat auch Einfluss auf das Figurenensemble: In den vier ersten Episoden von „Vampir“ lernen wir lediglich die nächtlichen Bewohner der Stadt kennen – Vampire, Dryaden, Geister, Hexen, Geister; Menschen nur vereinzelt (siehe unten). Wie Ferdinand sind die meisten dieser Gestalten harmlos und so entsteht das Bild einer Stadt, deren Parallelgesellschaften friedlich koexistieren: die Menschen bei Tag und die Monster bei Nacht. Ein Antagonismus zwischen guten Menschen und unheiligen Kreaturen der Dunkelheit fehlt komplett.
Tanz der Vampire: Figurenensemble
Der Cast von „Vampir“ konzentriert sich auf Freunde, Geliebte und Bekannte von Ferdinand: seine Käse-essende Katze Echnaton, eine alte Hexe („Omi“ genannt), die Dryade Liou, die Vampir-Geschwister Aspirine und Ritalina, ein magiebegabter Rabbi, ein Kriminalkommissar, eine japanische Touristin, ein Baummann, ein Magier usw.. Die überschaubare Anzahl von Personen führt unweigerlich dazu, dass sich Lieb- und Freundschaften überschneiden. Der daraus entstehende Konflikt (Freundschaft vs. Liebe) nährt nicht nur die Handlung von „Vampir“, sondern ist auch für zahlreiche amerikanische Sitcoms und Seifenopern essentiell. So droht in „Vampir“ die Freundschaft zwischen Ferdinand und Michael Douffon daran zu zerbrechen, dass auch Douffon mit Liou geschlafen hat (S. 81). Wie wichtig das komplexe Beziehungsgeflecht für die Geschichte ist, macht ein ganzseitiges Schaubild deutlich, das Joann Sfar an das Ende der Episode „(Un)sterblich Verliebt“ stellt: In Charakterskizzen und Textnotizen stellt der Autor wichtige Charaktere der Serie (Liou, Douffon etc.) noch einmal vor und geht besonders auf deren Beziehungen und Querverbindungen zu anderen Figuren ein.
Fazit
Wer TV-Serien wie Friends mag, der dürfte sich auch an Joann Sfars „Vampir“ erfreuen. In humorvollen Episoden wird der ewige Junggeselle Ferdinand durch die von ihm angebeteten Frauen immer wieder aus der Fassung gebracht. Durch die Einbettung der Affären in die gemütliche Monster-Parallelgesellschaft von Vilnius, erhält der Comic einen ganz eigenen Charme. Egal ob die Emo-Vampirin Aspirine, der naive Baummann oder die Käse-liebende Katze Echnaton – die fantastischen Charaktere wachsen einem schnell ans Herz. Mit ähnlichen Mitteln, wie Sitcoms und Seifenopern, erschafft Sfar so eine serielle Erzählung, in der sich man sich als Leser schnell wohlfühlt: Statt der Genre-üblichen Action-, Drama- und Horroreinlagen, bestimmen Situationskomik, Alltagsdialoge und wiederkehrende Handlungselemente die Geschichte. Ich bin gespannt, ob Sfar diesem Muster treu bleibt, oder ob er im Folgeband „Aspirine“ doch noch zu alten Dramaturgie-Mustern des Vampir-Genres zurück kehrt.
Postskriptum „Der Ewige“ (Roman): „L’Eternel“ heißt der erste Roman von Joann Sfar, dessen deutsche Übersetzung (Der Ewige) im Frühjahr 2015 bei Eichborn erscheint. Ob die Geschichte des liebeskranken Vampirs in New York auch mit der Handlung aus seinen Vampir-Comics verwoben hat, ist mir jedoch nicht bekannt. Klappentext: „In New York begibt sich ein junger Ukrainer in die Psychoanalyse, er will endlich seine Biografie aufarbeiten. Am Anfang des letzten Jahrhunderts starb er auf einem Schlachtfeld in Europa – nur um kurz darauf als Vampir wiederaufzuerstehen. Ein Zustand, mit dem er sich nie anfreunden konnte, der ihm zuwider war, der ihn von seiner großen Liebe entfernte und der neben dem ungemütlichen Blutsaugen auch noch andere Unannehmlichkeiten mit sich brachte. Der so höfliche, wohlerzogene Mann verliebt sich nun hundert Jahre später in seine Therapeutin. Beiden ist nicht bewusst, wie verwoben ihre Geschichten sind und in welcher Gefahr sie schweben.“
„Vampir“-Links
- Vampir: Leseprobe beim Avant-Verlag
- Nosferatu: Murnaus Schwarz-Weiß-Film in voller Länge auf den Seiten von archive.org
- Der Ewige: Artikel in der FAZ, der auf „Der Ewige“ (L’Eternel) Bezug nimmt.
Weitere Comics aus dem Vampir-Universum von Joann Sfar
Aus dem Zyklus Grand Vampire
- Aspirine: Dieser Band spielt direkt nach „Vampir“ und enthält drei weitere Geschichten über Ferdinand in Vilnius. Leseprobe.
- Die kleine Welt des Golem: Kurzgeschichtenband, der einige der ersten Auftritte von Ferdinand, Liou und dem Golem zeigt; spielt zeitlich vor „Vampir“. Leseprobe.
- Professor Bell: Streng genommen ist dies eine eigenständige Comicserie. Das Auftauchen von Professor Bell in der Vampir-Episode „Kreuzfahrt der einsamen Herzen“ deutet jedoch darauf hin, dass beide Serien im gleichen Universum angesiedelt sind. Leseprobe Band 1.
Aus dem Zyklus Petit Vampire
- Desmodus der Vampir: Diese Comicreihe erschien zeitlich vor Grand Vampire und richtet sich vornehmlich an Kinder. Hauptcharakter ist der kleine Junge Michael, der sich mit einem Vampir anfreundet. Zum Teil tauchen hier schon Figuren auf, die einem später in den Ferdinand-Bänden wieder begegnen. Band 1, Band 2, Band 3, Band 4
Bildnachweis: Joann Sfar / Avant-Verlag, 2013.