Ich fühle mich ein wenig wie Jonas, der Junge aus der Wormworld Saga, als ich das Arbeitszimmer von Daniel Lieske betrete. Nur wenig Licht dringt durch ein kleines Fenster in das Innerste der Fantasyhöle: Actionfiguren, CDs, Poster, ein Holzschwert und ein Regal voller Bücher und Comics. Der Schreibtisch ist erhellt durch drei Bildschirme, auf denen Twitter, Kickstarter und ein Grafikprogramm um die Aufmerksamkeit des Comiczeichners buhlen.
Ein Schritt zurück: Ich habe mich an einem sonnigen Tag von Münster aus in das gar nicht weit entfernte Warendorf begeben. Dort lebt Daniel Lieske, der mit seinem fortlaufenden Webcomic „Die Wormworld Saga“ seit 2010 Fantasyfans begeistert. Protagonist der Wormworld Saga ist Jonas, ein kleiner Junge, der auf dem Dachboden seiner Großmutter ein Portal in eine fremde Welt entdeckt und diese vor ihrem Untergang retten muss.
Als mich Daniel an der Haustür empfängt, entschuldigt er sich: „Sorry. Ich hatte total vergessen, dass heute der letzte Tag meiner aktuellen Kickstarterkampagne ist. Tut mir echt Leid, wenn es deswegen etwas chaotisch aussieht. Aber vielleicht kannst Du das ja für Dein Intro verwenden.“
Gesagt, getan. Also auf zum Interview.
I. Das Geld: „Meine Produktionstagebüchern enthalten Cliffhanger, das glaubst Du gar nicht!“
Schattenseiten des Crowdfundings
Wie man sehen kann, sind Deine Kickstarterkampagnen ziemlich erfolgreich. Aber Kickstarter ist ja nicht die einzige Plattform im Crowdfunding-Bereich. Über Patreon kann man Künstler zum Beispiel auch jenseits einzelner Projekte unterstützten. Wäre das nicht der logische, nächste Schritt für Dich?
Ich denke in der Tat stark darüber nach, bei Patreon aktiv zu werden. Aber das ist nicht so einfach.
Wieso das?
Das Problem ist: Die Leute sehen hauptsächlich Buchausgaben und erfolgreiche Kampagnen bei Kickstarter. Die Abgründe der alltäglichen Finanzierung hingegen bleiben im Dunklen. Ich habe einfach die Sorge, dass Fragen aufkommen, wie: „Wozu jetzt noch Patreon? Hat der Kerl nicht erst vor kurzem 40.000 Dollar auf Kickstarter eingenommen?“ 40.000 klingt nach einer Menge Geld, aber wenn man die Ausgaben abzieht, bleibt davon nicht viel übrig.
Du willst also nicht gierig erscheinen?
Genau. Ich habe mittlerweile das Gefühl, dass ich meine Misserfolge nicht deutlich genug kommuniziert habe. Ich muss die Leute stärker aufklären. Viele Fans haben zum Beispiel vor Jahren von meiner ersten Kampagne gehört, mit der ich die Wormworld-App finanziert habe. Das haben Tausende gelesen. Aber nur ein Bruchteil davon kennt den Blogartikel, in dem ich detailliert erkläre, warum ich die App vom Netz nehmen musste. Ich kriege heute noch Mails, in denen die Leute verwundert fragen „Daniel, wo ist eigentlich die App geblieben?“.
Und wie willst Du das Problem lösen?
Eigentlich müsste ich mal reinen Tisch machen und ganz offen sagen „das hier hat funktioniert und das nicht“. Ich habe mich in der Vergangenheit zu sehr auf die Erfolgsmeldungen der Wormworld Saga konzentriert, aber meinen Anteil an den Rückschlägen verschwiegen. Ich glaube, dahinter steckt auch eine gewisse Marketingdenke: Erfolge verbreiten, Misserfolge verschweigen.
Wenn ich jetzt also auf meine Fans zugehe und sage: „Hey, ich bin jetzt auch bei Patreon, unterstützt mich doch mit eurem Geld!“, dann kann es passieren, dass das unverschämt rüber kommt. Ich hatte deswegen schon mehr als einmal den Impuls, meine Produktionstagebücher online zu stellen. In den Tagebüchern halte ich seit 2003 alle Einnahmen, Ausgaben und Arbeitszeiten fest. Da sind Cliffhanger drin, das glaubst Du gar nicht! Die Leute kennen ja nur die Einnahmezahlen von Kickstarter, wie viel die Produktion des Comics aber kostet, das habe ich noch nie kommuniziert.
Lebensstandard und Liquidität
Bleiben wir bei den Ausgaben. Wie stark planst Du die Produktion eines Wormworld-Kapitels finanziell vor?
Ich mache vorher eine Liquiditätsplanung. Da ich seit 10 Jahren über die Ein- und Ausgaben in unserem Haushalt buch führe, kann ich relativ genau sagen, wie viel Geld ich für einen gewissen Zeitraum brauche. Ich beginne also erst dann mit der Produktion eines neuen Kapitels, wenn ich weiß, dass der Zeitraum finanziert ist. Am Anfang des Projektes konnte ich noch auf Reserven zurückgreifen, die aus meiner Zeit als Angestellter in der Computerspielbranche stammten, über die Jahre sind diese aber deutlich geschrumpft. Das aktuelle Kapitel (Kapitel 7) wurde beispielsweise zum großen Teil 2014 durch die Kickstarterkampagne für das erste englische Buch finanziert.
Das heißt, wir sprechen eigentlich über Querfinanzierung.
Es ist alles eine riesen Mischkalkulation! Da ich den Comic kostenlos ins Netz stelle, bin ich gezwungen über andere Wege Geld zu verdienen. In der Praxis heißt das für mich, dass ich immer einen Blick auf meine Exceltabellen habe. Die sagen mir, ab wann ich Gewinn mache, bis wann ich welche Beträge einnehmen muss, wann das Finanzamt kommt usw. Einen Teil der Einnahmen aus der aktuellen Kampagne für das zweite englische Buch werde ich zum Beispiel in meine Steuerschuld von 2013 investieren müssen.
Die Zeichnerin Ulli Lust hat letztes Jahr auf dem Comicsalon in Erlangen gesagt, dass man arm leben muss, um in Deutschland von Comics leben zu können.
Ganz ehrlich: Wenn ich die Option noch hätte, würde ich mich so einrichten. Das Problem ist nur, dass ich vorher 10 Jahre lang als Angestellter in der Computerspielbranche gearbeitet habe. Ich wurde nicht monströs gut bezahlt, aber gut genug, um mit meiner Frau, zwei Kindern und zwei Katzen in einem Haus zur Miete zu wohnen. Dadurch hat sich natürlich ein gewisses Ausgabenniveau etabliert.
Die Herausforderung bei meinem Schritt in die Selbständigkeit war es dann, den Lebensstandard zu halten. Klar versucht man hier und dort etwas zu sparen, wenn man weiß, dass das Geld knapp wird. Aber es gibt eben auch Kosten, die Du nicht beeinflussen kannst, wie die Miete oder Energiekosten. Und mit zwei kleinen Kindern kannst Du auch nicht gerade am Essen sparen.
Ich fantasiere schon manchmal, wie das wäre, wenn man kostenmäßig ganz runter auf das Single-Dachwohnung-Niveau käme. Dann könnte ich von meinen Projekteinnahmen schon sehr gut leben. Aber ich weiß nicht … vielleicht fordere ich das auch ein bisschen vom Leben ein, dass man auch als Familienvater die Möglichkeit haben muss, mit einem kreativen Projekt zu existieren. Es funktioniert ja auch einigermaßen. Nur ist es nicht so leicht, wie es manchmal von außen scheint.
Die Partnerschaft mit Tokyopop
Die Wormworld Saga kann man kostenlos im Internet lesen. Wie kam es da zur Zusammenarbeit mit den Verlagen in Deutschland und Frankreich?
Der Vertrag mit dem deutschen Verlag Tokyopop kam 2011, kurz nach der ersten Kickstarterkampagne zustande und war für mich neben der absehbaren App einer der Gründe, es mit der Selbständigkeit zu versuchen. Das besondere ist, dass ich mein Geld nicht pro Buch sondern pro Kapitel erhalte, das ich online veröffentliche. Da die Buch-Tantiemen – bisher sind zwei Bände erschienen – mit den Kapitel-Vorauszahlungen verrechnet werden, sehe ich von den Tantiemen dann auch erstmal eine ganze Zeit lang nichts. Aber das heißt nicht, dass die Wormworld Saga sich nicht gut verkaufen würde. Mittlerweile erscheint die Saga ja zeitgleich auch in Frankreich beim Verlag Dupuis.
Kannst Du Zahlen nennen?
Der erste Band des deutschen Wormworld Saga-Buchs hatte eine Erstauflage von 6.000 Stück. Aktuell liegt die zweiten Auflage vor. Man hat mir gesagt, dass die Zahlen für eine deutsche Graphic Novel-Serie überdurchschnittlich gut wären; obwohl Tokyopop mit seinen Manga-Lizenzausgaben sicherlich Anderes gewohnt ist.
Auch wenn ich den größten Teil meines Einkommens noch über andere Wege beschaffen muss, ist der Vertrag mit Tokyopop ein wichtiges Standbein für mich. Im Gegensatz zu Kickstarter kann ich mich bei Tokyopop nämlich darauf verlassen, wann ich für was Geld bekomme.
Die englische Version des zweiten Buches wird ja ebenfalls von Tokyopop heraus gebracht. Trotzdem wirbst Du bei Kickstarter um Spenden für das Buch. Wie habt ihr die Arbeit unter euch aufgeteilt?
(überlegt ein wenig) Ich würde sagen, jeder macht so viel, wie es seinem Anteil an dem Vertrag entspricht. Tokyopop tut alles, damit ein schönes Buch entsteht, spricht mit den Druckereien, sorgt für die korrekte Lagerung etc. Das Marketing und die Produktion der diversen Zusatzartikel hingegen mache ich komplett selber. Aber ich versuche trotzdem auch beim Packen und Verschicken der Bücher mit dabei zu sein.
Für Tokyopop ist das Ganze ein Testballon, mit dem sie ausprobieren, wie die Kombination aus Crowdfunding und klassischem Autorenvertrag funktioniert. Das kann also durchaus Signalwirkung für ihren Manga-Bereich haben. Insgesamt würde ich sagen, ist das schon ein sehr fairer Deal – für alle Beteiligten!
II. Die Geschichte: „Wenn ich daraus ein Lebenswerk mache, könnte ich es schaffen.“
Der Orient als grafisches Vorbild
Die Welt der Wormworld Saga erinnert durch ihre Architektur, Kleidung und Symbolik stark an Indien, Kambodscha, Japan. Warum hast Du gerade diesen Kulturkreis zum Vorbild genommen?
Der asiatische Kontinent hat mich immer schon fasziniert. Ich fand die Künstler interessant, die Popkultur. Im Comic hat gerade der Manga „Akira“ von Katsuhiro Otomo einen großen Einfluss auf mich gehabt. Zu Beginn der Wormworld Saga hatte ich eine starke Indien-Phase. Bei der Erschaffung der Welt habe ich mich auch immer darum bemüht, nicht zu sehr abzuheben. Die Reise von Jonas soll so wirken, als ob sie auch in unserer realen Welt stattfinden könnte. Ich bin einfach kein Fan von Fantasywelten mit fliegenden Bergen, die von Magie nur so durchtränkt sind. Deswegen denke ich, ist das echte Asien in vielen Dingen sogar noch exotischer als meine erdachte Wormworld.
Warst Du denn schon mal in Indien?
Nein. Um ehrlich zu sein, habe ich Europa noch nie verlassen. Das klingt jetzt ein wenig nach Karl May-Syndrom, oder? (lacht)
Nein im Ernst: Ich portraitiere den Kulturraum so, wie ich ihn mir vorstelle; wobei ich eben durchaus romantisiere oder Klischees bediene. Vielleicht lebe ich wie Karl May so meine Faszination für eine Kultur aus, die ich auf normalem Wege nicht erreichen kann.
Das erinnert mich an ein Interview mit dem finnischen Game Designer Sam Lake (Max Payne, Alan Wake). Auf die Frage, ob er beim Schreiben möglichst nahe an die reale USA heran kommen möchte, antwortete er: „Warum sollte mich die Realität interessieren? Das unreale, das mystische Amerika ist viel spannender!“ Würdest Du das auch unterschreiben?
Ich sag mal so. Ich hatte tatsächlich eine Phase, in der ich mir Bollywood-Filme aufgrund ihrer Optik angeguckt habe. Die Harems, gigantische, mit bunten Tüchern verhangene Säle, Typen mit riesigen Bärten – sowas findet man auch in der Wormworld Saga, wenn auch nicht so krass.
Kambodschanische Tempel, japanische Samuraitracht – die Wormworld besteht nicht nur aus indischen Kulturteilen. Wäre es nicht einfach gewesen, sich auf die indische Kultur zu beschränken?
Ich bin im Internet irgendwann auf das Stichwort Orientalismus gestoßen. Damit wird eine Situation kritisch beschrieben, in der der Westen durch Romantisierung und Reduzierung des Orients auf diesen herab blickt. Um dieser Falle zu entgehen, versuche ich meine Bilder zu brechen, zum Beispiel, indem ich die Kulturen vermische oder indem ich eine eher westliche Symbolik einschleuse. So basieren die blauen Turbane der Königswache zum Beispiel auf den Blauhelmen der UNO. Der Stern des Reichswappens ist an das Symbol der NATO angelehnt. Als Vorbild für die militärische Apparatur und das eher westliche Credo „Dominanz durch überlegene Militärtechnik“, dienten die USA. Die in Armut lebenden Schrate weisen wiederum auf das indische Kastensystem hin.
Aber es bleibt ein Drahtseilakt. Ich muss aufpassen, dass ich die Balance halte, zwischen romantischen Orientbildern und platten Klischees.
Das Big Picture
Während die ersten Kapitel mich noch an klassische Fantasygeschichten erinnert haben, wird die Wormworld Saga mit Kapitel 6 deutlich komplexer: der Königsberg als Metropole, politische Konflikte, Steampunk. War das von Anfang an so geplant oder hast Du auf den Erfolg reagiert, indem Du die Welt ausgeweitet hast?
Nein, das war alles von Anfang an so vorgesehen. Schon in meinen Aufzeichnungen von 2005 sind all diese Figuren angelegt. Auch der gesellschaftliche Konflikt, der sich bis zu einer Weltkriese verdichtet, war schon da.
Diese Komplexität war überhaupt der Grund, warum ich angefangen habe die Geschichte zu erzählen. Wenn wir uns das big picture anschauen, besteht die Wormworld Saga nämlich aus insgesamt drei Reisen, die miteinander verbunden sind. Ich könnte Dir jetzt in zwei Stunden gemütlich die gesamte Geschichte erzählen, aber ich habe gemerkt, dass ich mich damit zurückhalten muss. Denn dieses big picture kann nur dann mein Motor sein, wenn die Leute die Geschichte lesen, nicht wenn ich sie ihnen erkläre.
Ich will das mal abkürzen. „Akira“ hat mich total geflasht, weil der Manga zunächst als eine ganz normale Story über Teenager und verfeindete Motorradgangs beginnt. Aber dann gibt es plötzlich dieses übernatürliche Element und Tokyo wird komplett zerstört. Dabei ist die Handlung noch nicht einmal halb durch! Danach spielt die Geschichte in einer völlig zerstörten Stadt. Die Charaktere müssen auf völlig neue Grundvoraussetzungen reagieren. Das hat mich an „Akira“ so fasziniert, dass hier eine Welt an einen Krisenpunkt geführt wird, damit man sie danach in völlig neuen Perspektiven betrachten kann. „Der Herr der Ringe“ fängt ja auch ganz harmlos an, indem ein Hobbit und ein Zauberer gemütlich Käffchen trinken. Am Ende aber stehen sich riesige Armeen gegenüber, aber es ist alles folgerichtig argumentiert! Die Geschichte entwickelt sich organisch dort hin. Die Epik ist nicht künstlich aufgesetzt.
Über wie viele Kapitel sprechen wir denn?
50 bis 60.
50 bis 60?
Genau. Wobei ich sagen muss, dass sich in der Praxis auch einiges verdichtet. Vor ein paar Jahren ging ich zum Beispiel noch davon aus, dass ich für die erste Reise ungefähr 20 Kapitel brauche. Mittlerweile gehe ich von 16 bis 18 Kapiteln aus. Manche Themen lassen sich zusammen fassen, andere Nebengeschichten wiederum brauchen bei der Ausführung mehr Raum. So pendelt das immer hin und her.
Mit der ersten Reise haben wir zum Beispiel noch nicht mal ganz die Halbzeit erreicht. Es dürfte also noch 5 weitere Jahre dauern, bis die um ist.
Das heißt wir sprechen nicht über die Arbeit von Jahren sondern von Jahrzehnten.
Im Prinzip schon. Ich habe eben mit dem Impuls angefangen, eine viel zu große Geschichte zu erzählen, in einem Medium, mit dem es eigentlich zu lange dauert, sie zu Ende zu erzählen. Wobei ich am Anfang überschlagen habe, dass ich zumindest eine Chance habe, die Saga fertig zu kriegen, … wenn ich daraus ein Lebenswerk mache! (lacht)
Und zunächst nur mit einer kleinen Geschichte zu starten, auf die man später aufbauen kann, das war keine Option für Dich? Mir tut George R. R. Martin ja immer leid, der seit über 20 Jahren an „Game of Thrones“ schreibt. Der kann nicht mal eben das Genre wechseln, wenn er Lust dazu hat.
Nein, es war immer die große Geschichte. Ich hatte nie das Ziel etwas zu machen, dass man schnell fertig stellen kann – auch wenn einem das immer empfohlen wird. Ich habe das einfach nicht unter Kontrolle. Man kann mir bestimmt Blauäugigkeit vorwerfen, aber im Moment bin ich sau froh, dass mir die Ideen noch lange nicht ausgehen.
Das Storytelling selbst spielt eine Rolle
In den letzten beiden Kapiteln etablierst Du nicht nur gesellschaftliche Konflikte, Du führst auch Steampunk-Elemente, wie industrielle Hochöfen und Maschinen in die Geschichte ein. Warum so indirekt? Wäre es nicht an der Zeit endlich den eigentlichen Bösewicht, den Feuerwurm und seine Schergen auftreten zu lassen?
Ich kann nur so viel sagen: dafür gibt es Gründe! Das Thema, was real ist und was Mythos, was wirklich geschehen ist und was nur Feindbilder sind, das wird in der Geschichte noch eine Rolle spielen. Deswegen taucht das Element Feuer zunächst nur sehr dezent auf.
Die „Der Herr der Ringe“-Filmmethode, die Entstehung der Welt in einem Prolog direkt zu zeigen, war also keine Option für Dich?
Nein. Weil nämlich kein Mensch sagen kann, ob es sich genauso abgespielt hat. Vielleicht erzähle ich zu viel, aber ich will die Leser etwas hinters Licht führen.
Man könnte die Wormworld Saga ja durchaus für eine klassisch-harmlose Fantasygeschichte halten. Aber das Bild wandelt sich jetzt langsam. Und das ist für mich coming of age (zu deutsch Bildungsroman): Das Wandeln eines einfachen, kindlichen Weltbildes hin zu einem komplexen, erwachsenen Weltbild. Für mich ist es entscheidend, dass mein Protagonist nicht gleich zu Beginn ein Held ist; dass er immer noch gehemmt ist, obwohl alle sagen, er sei der Auserwählte. Er muss an einen Punkt gelangen, an dem er vorn allein aus sich heraus kommt.
Virtuelle Sets als erzählerisches Element
Im Making of-Bereich „The Attic“ beschreibst Du, wie Du von der Stadt am Königsberg ein komplettes 3D-Modell erstellt hast. Ist das nicht etwas aufwändig?
Ja das ist schon recht luxuriös. Das 3D-Modell hat mir aber sehr geholfen, die Bewegungen meiner Charaktere durch die Stadt konsistent zu halten. Außerdem habe ich damit die Möglichkeit, meine Kamera innerhalb des Modells frei zu platzieren und einzelne Panels vor zu rendern. Dadurch weiß ich immer, welche Gebäude sich im Bildhintergrund befinden. Das spart in der Storyboard-Phase viel Zeit.
Das erinnert mich an einige Filme, die in ihrer Erzählung stark mit Räumen und Architektur spielen. „Stirb Langsam“ würde zum Beispiel nicht funktionieren, wenn man als Zuschauer nicht erkennen könnte, in welchem Teil des Hochhauses sich Bruce Willis gerade befindet.
Eben. Darüber könnten wir jetzt sehr lange diskutieren. Ich glaube nämlich, dass ab dem Zeitpunkt, als Filme nicht mehr entlang von Sets geplant wurden, die erzählerische Qualität deutlich gelitten hat. Davor haben Sets wie Bühnenbilder die ganze Geschichte strukturiert. Das ist alles verloren gegangen, als reale Sets durch Computergrafiken ersetzt wurden.
Am besten kann man das an den „Star Wars“-Prequels sehen, in denen George Lucas beliebig zwischen verschiedenen Orten hin und her springt. Ganz anders „Indiana Jones und der Tempel des Todes“: Dieser Film spielt die gesamte zweite Hälfte innerhalb eines einzigen Sets!
Diese Methode versuche ich auch in der Wormworld Saga anklingen zu lassen, indem ich mich immer wieder frage: In welchem Set befinde ich mich gerade? Welche Möglichkeiten hat das Set und wie hält es die Geschichte zusammen? Ich könnte ja auch mit leeren Hintergründen arbeiten, was im Comic durchaus üblich ist. Ich will aber, dass der Leser genau weiß, wo sich die Charaktere befinden.
Gibt es einen Regisseur, der Dich dabei besonders beeinflusst hat?
Im Film ist das sicherlich Ridley Scott. Scott versteht es unglaublich gut, wie man ein räumliches Bild aufbaut. Gerade mit Nebel, Licht und Wasser weiß er umzugehen. Die Sets in „Legend“ (1985) wirken zum Beispiel manchmal fast wie gemalt.
War der Umgang mit Räumen in Computerspielen auch ein Einfluss? Immerhin hast Du mal in der Branche gearbeitet.
Im Gamedesign ist der Level natürlich eine wichtige erzählerische Einheit. Das spielte bei den Wirtschaftssimulationen, an denen ich mitgearbeitet habe, aber keine große Rolle. Meine Einflüsse liegen eher beim Film.
III. Das Layout: „Ich kann es mir gar nicht leisten, das Buchlayout zu ignorieren.“
Die Ursprünge des Weblayouts
Statt per Mausklick zu blättern, kann man die Kapitel Deines Webcomics von Anfang bis Ende stufenlos scrollen. Der Comictheoretiker Scott McCloud hat hierfür den Begriff infinite canvas (unendliche Leinwand) geprägt. Warum hast Du Dich für dieses Format entschieden?
Ich habe auch vor der Wormworld Saga immer gerne mit dem Layout meiner Webseite experimentiert. Die letzte Version von 2008 enthält bereits eine Kombination aus breiten Bildpanels und einem länglichen Textfeld. Da hat es bei mir Klick gemacht. Ich dachte: „So könnte man eigentlich auch den Comic machen.“
Würdest Du Dich wieder für den infinite canvas entscheiden?
Auf jeden Fall. Die Arbeit mit dem infinite canvas hat ein paar ganz entschiedene Vorteile.
- Dein Lesefluss wird nicht unterbrochen, denn es gibt keinen natürlichen Ausstiegspunkt durch die Technologie, kein Klicken, keine Ladezeiten. Wenn jemand ein Kapitel der Wormworld Saga abbricht, dann kann es eigentlich nur an der Geschichte liegen und nicht an der Technik.
- Es gibt pro Kapitel immer nur einen Link. Das hat für die Verbreitung im Internet immense Vorteile, beim Streuen in den sozialen Netzwerken aber auch bei der Platzierung in der Google-Suche.
Auf den infinite canvas bin ich damals durch Scott McCloud aufmerksam geworden. Es gab auf seiner Website ein Beispiel für den canvas, in dem ein Astronaut aus einem explodierenden Raumschiff fällt. Das hat mich stark beeindruckt. Die Szene aus Kapitel 3, in der Jonas durch den Großen Wald fällt, spielt auf dieses Vorbild an.
Weblayout vs. Buchlayout?
Die Saga erscheint nicht nur im Internet, sondern auch als Buch. Wie beeinflusst das Deine Arbeit?
Es gab schon ein paar Herausforderungen, aber nichts Schlimmes. Mittlerweile ist es sogar so, dass ich dem Buchlayout ein wenig die Hand reiche, indem ich größere Erzählstrecken so segmentiere, dass man das auf einzelne Seiten herunter brechen kann. Beim siebten Kapitel habe ich zum Beispiel die Vorversion das erste Mal parallel im canvas und im Doppelseitenlayout angelegt. Und ich muss sagen, das ist keine schlechte Methode.
Aber schränkt das Deine Möglichkeiten, mit dem infinite canvas zu spielen, nicht ein?
Das ist natürlich eine Gratwanderung, aber ich versuche beiden Formen gerecht zu werden. Ich möchte mich natürlich nicht zu sehr für die Buchversion einschränken. Manchmal genieße ich die Situation aber sogar, weil mir das Buchlayout hilft, Entscheidungen zu treffen. Die Überlegung, „Wo befände ich mich jetzt im Buch? Wie viele Bilder kann ich noch unter bringen?“ tut dem Storytelling im infinite canvas glaube ich ganz gut. Gerade bei längeren Diskussionen zwischen mehreren Charakteren, die im Doppelseitenlayout traditionell mit Richtungswechseln strukturiert werden, macht sich das bemerkbar.
Ich könnte es mir im Moment aber auch gar nicht leisten, das Buchlayout komplett zu ignorieren. Die Kickstarterkampagnen für die englischen Bücher sind nämlich so ziemlich das erfolgreichste, was ich bisher auf die Beine gestellt habe.
Die 1.000.000 Euro Frage
Was würdest Du machen, wenn Geld keine Rolle mehr spielen würde? Würde es dann noch eine Buchversionen geben, Kickstarter, Twitter?
(längere Pause) Ich denke, ich würde weiterhin die Dinge tun, die mir keine große Mühe machen. Dazu gehört auch die Buchausgabe. Auf Kickstarter würde ich aber verzichten. Stattdessen würde ich eine Community-Plattform aufbauen, um weiterhin mit den Fans in Kontakt zu bleiben. Denn auch wenn die Kickstarterkampagnen immer extrem anstrengend sind, merke ich doch, dass es genau diese Phasen sind, in denen ich am meisten mit den Leuten ins Gespräch komme.
Darüber hinaus würde ich versuchen, eine gewisse Studio-Umgebung aufzubauen, die es mir ermöglicht, die Kapitel schneller fertig zu stellen. Die Idee dafür kam mir letztes Jahr, als ich in Paris eine Ausstellung über die Vorzeichnungen des japanischen Ghibli Studios besucht habe . Ich war fasziniert davon, wie stark die Regisseure in der Phase der Vorzeichnungen involviert waren. So können sie den grafischen Stil des Films maßgeblich mitbestimmen und dennoch delegieren. Für einen Kontrollfreak wie mich wäre das genau das richtige. (lacht)
Die Wormworld Saga im Netz
- Die Wormworld Saga
- Leseprobe der deutschen Buchversion bei Tokyopop
- Blog von Daniel Lieske
- YayComics, Episode 31: Podcastfolge, in der Daniel Lieske und Sarah Burrini detailliert über ihre Erfahrungen mit Crowdfunding berichten.
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Bildrechte: Daniel Lieske, Tokyopop, Philipp Spreckels.
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