The Sound of History: Ähnlich wie am Donnerstag zog es uns am dritten und letzten Tag zu einer eher alternativen Sektion: „Sound History“ Aber wie konnten wir auch anders, gehört die Verbindung Audio(quellen) und Geschichte doch zu einer der zahlreichen Sendungskonzepte aus der Q History-Radio-Zeit, die wir zwar immer wieder diskutiert, schlussendlich aber nie realisiert hatten. Wir waren also äußerst gespannt …
… und wurden nicht enttäuscht. Gerade die Vorträge zu Richard Wagners Walkürenritt (Gerhard Paul) und der Klangarchäologie der Radio-Stimmen (Hans-Ulrich Wagner) hatten es in sich. Paul zeichnete akribisch die Sinnaufladung, wandelnde Ikonographie und Verbindung von Wagners Walkürenritt mit Krieg und Gewalt nach. Dies weckte bei mir Erinnerungen an die Plankton- und Krill-Jäger aus der maritimen Sektion am Tag zuvor. Aus der folgenden Fragerunde entwickelte sich dann eine Diskussion über Musik und Lärm als Waffe (z.B. als Folterinstrument in Afghanistan), ein historisches Feld das laut Gerhard Paul fast noch völlig unbestellt sei. Bemerkenswert war auch, wie der Referent überhaupt zur Soundgeschichte gekommen war. Nämlich nur über Umwege. Eigentlich wollte er wohl nur eine Geschichte des Visuellen im 20. Jahrhundert schreiben, stieß dabei aber auf Abgrenzungsprobleme. So könnte man laut Paul die Geschichte der nationalsozialistischen Wochenschau kaum ohne den Sound schreiben, brächen die Narrationsstrukturen ohne den Audiokommentar doch vollständig zusammen.
Hans-Ulrich Wagner stürzte sich wie gesagt nicht auf seinen Namensvetter, sondern auf die Spuren der Produzenten und Rezipienten des Radios in der Nachkriegszeit. Im Zentrum von Wagners Vortrag stand der Versuch, in einigen Theorieskizzen die noch relativ gut überlieferten Produktionserzeugnisse des Radios mit den für uns heute nur schwer greifbaren Erfahrungen der Radio-Hörenden in Beziehung zu setzen.
Ein Nebenprodukt, der Beschäftigung mit der Klangarchäologie der Bonner Republik, war eine These Wagners zum Medienkampf. Laut ihm hätten der Kampf zwischen dem alten Medium (Radio) und dem neuen (TV) überwiegend entlang konfessioneller Linien statt gefunden. Demnach betrachteten die meisten Radiomacher, zum großen Teil Söhne aus protestantischen Pastorenhaushalten, das Radio als Äquivalent zum gehörten Wort Gottes im Gottesdienst auch als Werkzeug zur Erziehung der Massen. So verwundere es nicht, dass sie sich nach 1945 auf die Suche nach dem „demokratischen Sound“ der neuen Bundesrepublik machten.
Zum Schluss wies Gerhard Paul noch einmal auf eine anstehende Publikation der Bundeszentrale für Politische Bildung für das Jahr 2013 hin, die sicherlich auf den ein oder anderen Historiker-Wunschzettel gehört: Gerhard Paul / Ralph Schock (Hrsg.): Der Sound des Jahrhunderts. Ein akustisches Portrait des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Die Themen reichen vom LautSprecher Hitler, über Orson Welles‘ War of the Worlds und den Soundtrack des ‚Holocaust‘ bis hin zu einer Kurzgeschichte des Klingeltons.
Vom Geschmack des Archivs: Statt der eher wissenschaftspolitischen Drittmittel-Sektion haben wir uns zum Schluss nochmal einem klassischen Thema zugewandt, dessen leicht kulturpessimistischer Titel eine rege Diskussion versprach: „Wo bleibt der ‚Geschmack des Archivs‘? Historische Forschung im digitalen Zeitalter“
Getreu dem Titel der Sektion begannen die Panel-Teilnehmer zunächst damit, von ihrer persönlichen Beziehung zum Archiv zu berichten. So erzählte Birgit Emich recht eindrucksvoll, wie sie nach einem Jahr stiller Recherche im Vatikanischen Geheimarchiv Dominikaner von Franziskaner allein schon am Knarren und Knarzen ihrer Mönchssandalen unterscheiden konnte. Ihre Kollegen assoziierten den Aufenthalt im Archiv eher mit dem Visuellen (Darstellung des Archivs als Tresor geheimen Wissens und Abschiebebahnhof für unbequeme Kriminalbeamten im ARD Tatort) oder Geschmacklichen (das Archiv als Weinkeller für Geschichtsgurmets).
Einige Aspekte der Diskussion:
- Plädoyer für die Hilfswissenschaften: Allgemein hatte man sowohl im Panel als auch im Publikum den Eindruck, dass die heutigen Studenten und sogar einige Doktoranden im Verlauf ihres Studiums zu wenig Kontakt mit den Hilfswissenschaften hätten. Und das, wo doch gerade die sinnliche Erfahrung im Umgang mit den authentischen Forschungsobjekten im Archiv für viele Diskussionsteilnehmer wesentlich zur Identifikation mit ihrem Fach beigetragen hatte, in den Beschreibungen ja mitunter schon fast Erweckungserlebnis-ähnliche Züge hatte. Denn: „Im Archiv entscheidet sich wer Historiker wird und wer nicht.“
- NSU-Aktenvernichtung: Das Bild der Archive in der Öffentlichkeit wurde eher pessimistisch gesehen. Gerade gegen die skandalöse Aktenvernichtungen im Zuge der NSU-Affäre hätte man „getrommelt und geschrien“. Aber außer anderthalb Artikeln in der Süddeutschen Zeitung hätte es die Medien nicht interessiert, dass „nicht der Verfassungsschutz oder sonst irgendeine Behörde“, sondern nur die Archive das Recht hätten Akten zu vernichten. (van Laak)
- Mehr Geld für Replikate als für Originale: Auch die Schieflage in der Finanzierung von Archiven wurde diskutiert. Laut den Archiven (van Laak?) könne es nicht sein, dass der Architekt für das Gebäude, in dem die Replikate ausgestellt werden, mehr Geld bekäme, als das Magazin in dem die Originale ruhen. Beispiel war hier das Berliner Ausstellungsprojekt „Topographie des Terrors“.
Neben den genannten Aspekten dominierte in der Diskussion jedoch eindeutig die Frage nach den Folgen der Digitalisierung für die historische Forschung. Gerade Birgit Emich sah hier trotz der zahlreichen nicht zu leugnenden Vorteile zwei Gefahren:
GEFAHR NR. 1: selektive Digitalisierung führt zu selektiver Forschung
Im Gegensatz zu den eher quellenarmen Epochen der Antike und des Mittelalters wäre es laut Emich utopisch anzunehmen, dass in der quellenreichen Frühen Neuzeit geschweige denn in der Neuzeit jemals eine flächendeckende Digitalisierung erreicht werden könnte. Neben der schieren Masse der Quellen verhindern gerade die nur sehr schwer zu entziffernden Handschriften ein solches Projekt. Dies führe ihrer Erfahrung nach schon jetzt zu einer gefährlichen Tendenz: Geforscht wird nur über das „was online“ ist. Es drohe also gerade bei vielen jungen Historikern eine Missachtung der Handschriften. Dementsprechend plädierte Emich dafür, Online-Angebote der Archive parallel und nicht _statt_ eines Archivaufenthalts zu nutzen. Unterstützt wurde sie von Kiran Klaus Patel, der gerade hinsichtlich globalgeschichtlicher Ansätze betonte, dass Historiker sich nicht immer nur in die wohl-klimatisierten Zentralarchive der Westlichen Welt begeben könnten (z.B. London), sondern sich auch in die Archive der ehemaligen Kolonien (Stichwort: Eurozentrismus) wagen müssten.
GEFAHR NR. 2: Quantität und Isolation der Quellen als Gefahr für Close Reading und Provenienzsystem
Während die Logik des ersten Punktes nicht von der Hand zu weisen war, sprach aus den Ängsten vor einem „Ende des Close Readings“ durch rein quantitative Analysemechanismen wie Googles Ngram Viewer und dem Ende des Provenienzsystems durch die digitale „Isolation der Quellen“ (Emich), meiner Meinung nach der Kulturpessimismus. In die gleiche Kerbe schlugen Aussagen, welche Internetseiten die Eigenschaft als Quelle absprachen, da diese veränderbar seien oder die Gefahr vor den „vagabundierenden Quellen“ auf Wikipedia (van Laak). Auf den an dieser Stelle notwendigen Hinweis, dass das Internet lediglich ein Medium ist, über dessen inhaltliche Qualität wir genauso wenig pauschale Aussagen treffen können, wie über Druckerschwärze auf Papier, wartete ich vergeblich…
…aber wahrscheinlich wollte wollte niemand der geistig gesättigten Konferenzteilnehmer (mich inbegriffen) so kurz vor Schluss noch eine Grundsatzdiskussion eröffnen und so gingen drei Tage Marathonkolloquium in Mainz zu Ende. Schön war es auf dem Historikertag 2012!
Rückblicke auf die ersten beiden Tage des Historikertags 2012:
[…] Spreckels Blogeinträge zu Tag 1, Tag 2, Tag 3 (mit vielen Sektionsimpressionen und eleganten […]
[…] ← Vorherige Nächste → […]
[…] ← Vorherige Nächste → […]
[…] eher subjektiven Skizzen und Anekdoten (siehe Tag 1, 2 & 3) habe ich für die Historikertag-Sektion „Geschichtswissenschaft digital in Deutschland und […]