Alzheimer im Comic – „Don Quijote“ und „Kopf in den Wolken“

Alzheimer im Comic - "Kopf in den Wolken" und "Don Quijote"Einbildungen, Vergessen, Realitätsverlust: Das Medium Comic ist für die Darstellung der Demenzkrankheit Alzheimer geradezu wie geschaffen. Die deutsche „Don Quijote“-Adaption von Flix und der spanische Altersheim-Comic „Kopf in den Wolken“ (Paco Roca) zeigen, was geht.

Worum geht es?

Don Quijote

Wie im Roman von Miguel de Cervantes, so kämpft Alonso Qijano auch in der Comicadaption von Flix gegen Windmühlen. Doch Flix‘ Alonso ist kein Mitglied des spanischen Landadels, sondern ein Wutbürger aus Mecklenburg Vorpommern, der gegen einen modernen Windparks protestiert. Auch die Ursache für die Einbildungen Alsonsos unterschieden sich von der Romanvorlage – statt sich in Wunschträumen zu flüchten, leidet der cholerische Rentner unter den Folgen der Alzheimerkrankheit. Eine weitere Abweichung: Sein treuer Begleiter Sancho Panza heißt Robin, ist 10 Jahre alt und hält sich für den Verbrecherjäger Batman. In der deutschen Comicadaption treffen also gleich zwei Charaktere aufeinander, die mit der Realität auf Kriegsfuß stehen.

Kopf in den Wolken

Auch der spanische Comic „Kopf in den Wolken“ handelt von der Krankheit Alzheimer. Die Geschichte begleitet den ehemaligen Bankangestellten Emilio, der im Altersheim einen aussichtslosen Kampf gegen das Vergessen führt. Der Autor und Zeichner Paco Roca entspinnt eine facettenreiche Erzählung, die immer wieder zwischen eintönig-humorvollen Alltagsgeschichten und den farbenfrohen Einbildungen der Bewohner hin und her pendelt.

Das Spiel mit der Wahrnehmung

Roca und Flix greifen tief in die Trickkiste des Mediums Comic, um die Auswirkungen der Demenzerkrankung Alzheimer (Konstruktion von Einbildungen / Dekonstruktion der Realität) zu zeigen.

Die Gleichzeitigkeit von Realität und Einbildung

Das Rennrad als Schlachtross (Don Quijote)

Alonso verwandelt sich in einen Ritter (DQ 57).
Alonso verwandelt sich in einen Ritter (DQ 57).

Die Einbildungen von Alonso Quijano speisen sich aus drei Erzählungen: der drohenden Zerstörung seines Heimatdorfs (Tobosow) während des Zweiten Weltkriegs, dem Protest gegen den örtlichen Windpark und den Abenteuern eines mittelalterlichen Ritters. Alle drei Geschichten haben jedoch eins gemeinsam: Alonso will seine Heimat vor Schaden bewahren, egal ob als Kind, Wutbürger oder Ritter. Wer nun jedoch erwartet, dass Flix‘ „Don Quijote“ ständig zwischen den verschiedenen Erzählungen und der Realität hin und her zappt, liegt falsch. Statt sich pro Panel auf eine Wahrnehmungsebene festzulegen, zeigt Flix meist beides zugleich: Wirklichkeit und Einbildung.

Auf Seite 57 lässt sich ein typischer Anfall Alonsos beobachten: Ausgelöst durch ein emotionales Ereignis (der Verrat eines guten Freundes), färben sich seine Augen schwarz (oben, 3. Panel von links) und krakelige Rauchschwaden steigen von seinem Kopf auf. Durch den veränderten Strich und die schwarzen Augen wirkt Alonso nicht länger nur verärgert, sondern geradezu manisch-aggressiv. Dieser Eindruck wird im folgenden Close-up von Alonsos Gesicht noch mal verstärkt: Das gesamte Panel ist in einem krakeligen, unruhigen Strich gezeichnet und um das Gesicht sieht man nur Schwärze. Im Übergang zum letzten Panel auf der Seite kehrt Flix‘ normaler, feiner Strich zurück, doch Alsonso hat sich gänzlich verwandelt: Statt Anzug trägt er eine Ritterrüstung, statt Regenschirm einen Reitersäbel, sein Rennrad ist ein Pferd. Die Umgebung bleibt jedoch modern und passt sich nicht der Ritterfantasie an.
Dieser Ablauf von schwarzen Augen, Rauch, Close-up und Einbildung beschreibt einen typischen Anfall Alsonsos. Während solche Verwandlungen zu Beginn des Comics noch die Ausnahme sind, treten sie später häufiger auf. So wird aus dem Rennrad Rosenante ein Pferd, aus dem Fahrrad- ein Ritterhelm, aus Robins Dreirad ein Esel.

Der erzählerische Vorteil: Indem Flix lediglich einzelne Elemente der Realität verwandelt, kann er mehrere Wahrnehmungsebenen gleichzeitig darstellen, ohne durch ein ständiges Wechseln von Ort und Zeit den Fluss der Erzählung zu stören. Diese Gleichzeitigkeit macht die große Stärke des Comics aus.

Der rote Himmel des Orientexpress‘ (Kopf in den Wolken)

Der rötliche Tagtraum von Dona Rosario (KidW 18).
Der rötliche Tagtraum von Dona Rosario (KidW 18).

Um einzelne Szenen voneinander abzugrenzen, nutzt Paco Roca eine Dimension, die in „Don Quijote“ fehlt: Farben. Diese Technik wird besonders deutlich, wenn die Erzählung zwischen dem Alltag im Altersheim und den Einbildungen eines Bewohners wechselt – zum Beispiel im Fall von Dona Rosario, die glaubt, sie befände sich an Bord des Orientexpress‘ nach Istanbul.

Auf Seite 18 kann man deutlich sehen, dass die Panels, solange sie noch in der Wirklichkeit spielen, einen hellbraunen Farbton haben, während die Einbildungen der Dona Rosario in ein irreal wirkendes, kräftiges Rot getaucht sind. Die Verbindung zur Realität stellt Roca durch Emilio und seinen Freund Miguel her, die in ihrer realen Erscheinung durch die Traumwelt spazieren. Außerdem fällt auf, dass die junge Frau im Zug die gleiche Körperhaltung und ein ähnliches Aussehen wie Dona Roasrio hat, es muss sich also um eine Erinnerung der alten Dame an ihre Vergangenheit handeln (Seite 19).

Im Prinzip nutzt Paco Roca die gleiche Technik wie Flix, nur spiegelverkehrt: Während in „Don Quijote“ lediglich ausgewählte Objekte und Personen ihre Gestalt verändern, ist es in „Kopf in den Wolken“ die komplette Umgebung, die sich wandelt. Für die Gleichzeitigkeit von Realität und Traumwelt haben sich beide Zeichner entschieden.

Wenn die Realität zerfällt

Das Vergessen ist weiß (Don Quijote)

Alonso hat den Namen seiner Frau vergessen (DQ64).
Alonso hat den Namen seiner Frau vergessen (DQ64).

Alzheimerpatienten haben je nach Stadium der Krankheit nicht nur Probleme Gegenwart, Fantasie und Vergangenheit zu unterscheiden – ihre Wahrnehmung ist in schweren Fällen oft noch grundlegender gestört. Ein Aspekt dieser geistigen Auflösungserscheinung ist das Vergessen. „Don Quijote“ arbeitet zum Beispiel mit der Farbe Weiß, um die Erinnerungslücken des Hauptcharakters zu visualisieren.

Als Alonso auf Seite 64 nach dem Namen seiner Frau gefragt wird, sehen wir als Antwort ein altes Familienfoto des Ehepaars vor dem gemeinsamen Haus. Ein deutlich jüngerer Alonso ist erkennbar, während das Gesicht seiner schwangeren Frau durch ein weißes Quadrat verdeckt wird. Flix gelingt es mit dieser Darstellung, das Vergessen Alonsos relativ genau zu umreißen: Er erinnert sich an seine Ehe, das gemeinsame Haus und die Schwangerschaft seiner Frau, ihr Gesicht und ihr Name bleiben jedoch leer. Eine auch jenseits der beiden Comics oft eingesetzte, allgemeinere Variante von Weiß als dem Sinnbild des Vergessens ist das leere Panel – so zum Beispiel auf Seite 26.

Fang den Llab (Kopf in den Wolken)

Emilio hat das Wort "Ball" vergessen (KidW31).
Emilio hat das Wort „Ball“ vergessen (KidW31).

Paco Roca greift in „Kopf in den Wolken“ zu einem anderen Darstellungsmittel für das Vergessen. Um deutlich zu machen, dass Emilio sich auf Seite 30 nicht mehr an das Wort „Ball“ erinnern kann, dreht der Zeichner einfach die Reihenfolge der Buchstaben um. Das Ergebnis ist eine Szene, die ebenfalls mit der Gleichzeitigkeit verschiedener Realitäten arbeitet, da alle Charaktere zwar von „Llab“ statt „Ball“ reden, der Leser dies mit etwas Hirnschmalz jedoch entziffern kann. In einer ähnlichen Szene auf Seite 70 spielt Roca wiederum mit der Schrift, indem er die Notizen, die Emilio auf seine Handfläche geschrieben hat, durch unkenntliches Gekrakel ersetzt.

Wenn die Welt schwindet (Kopf in den Wolken)

Emilio kann seinen Freund Miguel kaum noch erkennen (KidW 95).

Die wohl eindrucksvollste Szene von „Kopf in den Wolken“ ist zugleich diejenige, in der die Wahrnehmung von Emilio komplett zerfällt (Seiten 95-96). Aus der Perspektive Emilios gezeichnet, zieht Paco Roca alle Register, um die Ansicht von Emilios Gegenüber zu dekonstruieren und somit auch zu entfremden: Der Strich wechselt von dünnen, geraden Linien zu dicken, ausfransenden Outlines; die Farben verlieren ihren Verlauf, werden flach und verschwinden. Schließlich sind nur noch wage Umrisse von Emilios Freund Miguels zu sehen, bevor die Szene am Ende von Seite 96 abrupt endet; gänzlich ohne Panel.

Das Faszinierende an dieser Szene ist nicht allein, wie Paco Roca das Gesicht von Miguel schrittweise dekonstruiert, sondern, dass er dies nicht als lineare Entwicklung beschreibt. Statt einem gleichbleibend voranschreitenden Prozess schwanken die Panels immer wieder hin- und her zwischen Erinnern und Vergessen, zwischen Komplexität und Abstraktion. Auf diese Weise gelingt ein spannender Einblick in das Innenleben eines schwer kranken Alzheimerpatienten, der sich in der einen Minute noch an seinen besten Freund erinnert, um ihn kurz darauf wieder zu vergessen. Allein für diese Szene lohnt sich das Buch!

Fazit

„Don Quijote“ und „Kopf in den Wolken“ zeigen, dass sich das Medium Comic hervorragend für die Darstellung der Krankheit Alzheimer eignet. Der Schlüssel zum Erfolg ist die Gleichzeitigkeit, mit der Flix und Paco Roca Realität und Einbildungen im selben Raum anordnen. Diese Möglichkeit hat weder der Roman (mangelnde räumliche Aufteilung) noch der Spielfilm (mangelnde Interpretationszeit). Und warum tolerieren wir als Leser derart unsichere Erzählungen? Weil gerade die grafische Konstruktion und Dekonstruktion von Wirklichkeit im Comic Alltagsgeschäft ist. Mit jedem Comic müssen wir uns auf eine neue Bildsprache, einen neuen Zeichenstil und auch einen neuen Grad der Abstraktion einlassen. Flix und Paco Roca nutzen diese Sollbruchstelle des Mediums, um die Wahrnehmungsprobleme und Einbildungen von Alzheimerpatienten zu beschreiben. Das Ergebnis kann sich meiner Meinung nach sehen lassen.

Wie seht ihr das? Sind Comics ideal, um Alzheimer-Geschichten zu erzählen? Kennt ihr andere Comics, die ähnlich vorgehen? Oder müsste man die These noch allgemeiner fassen und sie auf Wahrnehmungsstörungen allgemein ausdehnen? Ich freue mich auf eure Kommentare!

Weitere Infos zu „Don Quijote“

Weitere Infos zu „Kopf in den Wolken“

Bildnachweis / benutzte Ausgaben: „Don Quijote“ von Flix, Carlsen Verlag 2012 (DQ). „Kopf in den Wolken“ von Paco Roca, Reprodukt Verlag 2013 (KidW).

2 Kommentare

  1. Eine sehr sorgfältige Analyse dieser Comics zu einem schwierigen Thema, Glückwunsch!
    Ein weiterer Comic, der sich allerdings an Kinder richtet, heißt „Keine Macht für Al Tsoy Ma“. Hier wird die Krankheit aus Sicht des Enkels dargestellt.
    Außerdem „Das große Durcheinander: Alzheimer, meine Mutter und ich“, eine Graphic Novel.

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