Ein Q History-Beitrag zu Erinnerungsorte im deutschen Fußball.
Die WM tritt gerade in ihre heiße Phase ein. Und natürlich kommt auch Q History nicht um das Thema Fußball herum. Im diesem Beitrag erklären uns
Henrik Kipshagen und Philipp Spreckels die wichtigsten Ereignisse der deutschen Fußballgeschichte.
Sonntag, der 27. Juni 2010. WM-Achtelfinale, Deutschland gegen England.
Kommentar 2010: „und jetzt wackeln sie kurz… Ball nicht im Tor! Nicht im Tor! Keine Wiederholung von Wembley!“
An diese Szene wird man sich in beiden Ländern vermutlich noch lange erinnern. Doch wie entstehen eigentlich solche Erinnerungsorte bei Sportereignissen, speziell beim Fußball? Einige spektakuläre Pfiffe, Tore oder Fouls sind schon nach wenigen Tagen vergessen, andere bleiben über Generationen im Gedächtnis. Wir stellen euch die prominentesten Ereignisse der deutschen Fußballgeschichte vor, und erklären, warum sie uns noch heute bekannt sind.
Das Fußballspiel ist in England erfunden worden. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts erreichte es das Deutsche Reich, und gewann dort rasch an Beliebtheit. Der Sportwissenschaftler Kai Reinhart von der Universität Münster erklärt die Ursachen für diese Entwicklung.
Kai Reinhart: „England hatte den Fußball für sich schon auserkoren, und war dann einfach auch in und schick, so wie es heute vielleicht Trends aus den USA sind. Der Fußball ist dann auch bereitwillig aufgegriffen worden, insbesondere von gesellschaftlichen Schichten, die Kontakt zur angelsächsischen Welt hatten, wie das gehobene Bürgertum.
Mannschaftssportarten haben eben den großen Vorteil, dass sie eine Konstanz haben. Mit ihnen kann man sich im Prinzip über eine Lebensspanne hinweg identifizieren. Darüber hinaus ist die Möglichkeit, lokale an Identitäten anzuknüpfen natürlich auch ein unheimlicher Pluspunkt von Mannschaftssportarten.“
Als Deutschland die Weltmeisterschaft von 1954 gewann, entstand der Fußballmythos der Deutschen: Das sogenannte Wunder von Bern.
Kai Reinhart: „Dieser unglaubliche Turnierverlauf, dass ein absoluter Außenseiter sich durchsetzt, und dann am Ende gegen den absoluten Topfavoriten dieser Zeit spielen musste, gegen den man ja schon in der Vorrunde krass verloren hatte. Das ist natürlich auch so eine klassische Heldengeschichte, die sich dann gut eignet. Auch deshalb vielleicht, weil es so eine Art Public-Viewing-Effekt dadurch gab, dass die meisten Menschen noch keinen Fernseher hatten. Die Menschen mussten damals auf jeden Fall zusammen gucken, vor irgendwelchen Fernsehgeschäften, durch das Schaufenster, oder in Gaststätten, oder eben gemeinsam vor dem Radio. Das hat das, denke ich, auch sehr befördert.“
Doch es ist nicht selbstverständlich, dass ein Ereignis wie das Wunder von Bern noch Generationen später eine so große Bedeutung hat. Dr. Reinhart erläutert:
Kai Reinhart: „Ich denke schon, dass dieses Ereignis im Idealfall von vielen Menschen, die sich in dem Moment auch als Gruppe, die diese Erzählung dann weiter trägt, zum Beispiel als Nation, begreifen, erlebt wird. Dann spielen natürlich die Medien eine ganz entscheidende Rolle. Wenn im weiteren Verlauf nicht mehr auf das Ereignis Bezug genommen wird, dann wird es auch relativ schnell wieder verschwinden. Wenn es aber ständig wiederholt wird, immer wieder aufgegriffen wird, wenn es geradezu sprichwortartigen Charakter erlangt, dann ist es natürlich sehr gut geeignet, um immer weitererzählt zu werden.“
Neben dem Wunder von Bern dominiert vor allem die Rivalität mit England das Fußballgedächtnis der Deutschen. Woher aber stammt dieser Gegensatz?
Kai Reinhart: „Es ist sicher nicht hinderlich, wenn man an bestehende Selbst- und Fremdbilder anknüpfen kann. Deutschland und England waren eben in zwei Weltkriegen schon Gegner. Wenn jetzt deutsche und englische Spiele immer total unspektakulär und langweilig gewesen wären, dann wäre das vielleicht auch anders gekommen. Aber solche Ereignisse wie das Wembley-Tor oder die diversen Elfmeterschießen mit so alles oder nichts Charakter, die haben das natürlich dann enorm befördert.“
Kommentar 1966: „Achtung! Achtung! Nein! Nicht im Tor, kein Tor! Oder doch? Jetzt, was entscheidet der Linienrichter? Tor!“
Obwohl die patriotischen Gefühle bei manchen Spielen schon mal über schwappen, geht es bei den Fußball-Duellen nicht um Leben und Tod.
Kai Reinhart: „Ich glaube, das ist eine Sache, wo dann irgendwie beide Seiten auch Spaß dran gefunden haben. Die einen, die sich freuen, wenn Lineker sagt: »Ja, Fußball ist, wenn 22 Leute hinter dem Ball her rennen und am Ende gewinnt Deutschland.« Und die Engländer, die sich vielleicht auch ein bisschen gefallen in dieser Rolle des Opfers sozusagen oder des Pechvogels.“
Gerade Presse und Fans befeuern den Wettstreit der Fußballnationen auch mit Stereotypen und Vorurteilen. Dies veranschaulicht ein Begriff für die deutsche Nationalmannschaft aus dem Französischen.
Kai Reinhart: „La Mannschaft. Das war eigentlich immer ein bisschen zwiespältiges Wort. Es bedeutete einerseits schon sozusagen Respekt für diesen Kampfgeist und für diesen Siegeswillen und auch die Erfolge, die dann errungen wurden, aber eben gleichzeitig auch so dieses, naja, als gemeinsames Bollwerk kämpfen wir die Ballkünstler nieder.“
Dass solche Fremdbilder aber auch in das kollektive Selbstbild der Deutschen einfließen und akzeptiert werden, zeigen die Sportfreunde Stiller, wenn es in ihrem WM-Lied heißt:
Sportfreunde Stiller: „Wir haben nicht die höchste Spielkultur, sind nicht gerade filigran.“
Noch ist nichts in Stein gemeißelt. Wie viele Begriffe, hat auch La Mannschaft in den letzten Jahren einen Bedeutungswandel vollzogen. Nicht zuletzt durch die ausgelassene und friedliche Partystimmung während der WM 2006, dem Zauber des Sommermärchens, ist das Bild der Nationalmannschaft heute ein anderes. Dies lässt sich aber auch an der Mannschaft selbst festmachen. Herr Reinhart meint:
Kai Reinhart: „Jetzt präsentiert sich vielleicht Deutschland auch mit dieser Mannschaft als ein buntes Land, als ein Einwanderungsland, was aber offen ist und diese Menschen auch aufnimmt und ein Stück weit auch verändert wird durch diese Menschen, eben jetzt vielleicht auch eine andere Fußballkultur pflegt.“
Spätestens seit dem Film von Sönke Wortmann ist das Wunder von Bern ein etablierter Erinnerungsort der Deutschen. Aber hat das Wembley-Tor als Fußballmythos ausgedient? Denn viele betrachten doch das Achtelfinale bei der WM in Südafrika als Rache für Wembley. Kai Reinhart nimmt dazu Stellung.
Kai Reinhart: „Also ich habe das Gefühl von ehrlicher innerer Harmonie und Ausgeglichenheit, seitdem dieses Tor gefallen ist. (lacht) Aber es wird natürlich auch zukünftigen Begegnungen von England und Deutschland einen besonderen Reiz verleihen und diese Geschichte fortschreiben.“
Fotos: copyright by Philipp Spreckels