Ein Q History-Interview mit Werner Freitag zur Geschichte der Wiedertäufer.
Was als Berg Zion bekannt war, beherbergt heute den Wochenmarkt, und wo leere Eisenkäfige hängen, erwartete einst der König von Münster seinen Tod. Die Münsteraner Täufer – wer war diese Gruppe, was hatte sie mit der Reformation zu tun und stimmt es, dass diese christliche Sekte Polygamie praktizierte? Wir haben Prof. Dr. Werner Freitag vom Institut für vergleichende Städtegeschichte getroffen und mit ihm über das Münsteraner Täuferreich gesprochen.
Q History: Herr Freitag, ganz allgemein: Wer waren die Münsteraner Täufer?
Werner Freitag: Die Täufer sind eine Bewegung, die aus dem niederländischen Bereich kommen und versucht haben, sich in Straßburg breitzumachen. Wir haben dann später in Münster eine Sonderentwicklung, dass nämlich eine ursprünglich lutherische Reformation, unter der Führung des charismatischen Prädikanten Bernhard Rothmann, eine Eigendynamik bekommt.
Gebürtig aus Stadtlohn im westlichen Münsterland, war Rothmann offen für die Niederlande. Im Rahmen der Entwicklung dieses Predigers kommt es zur Kontaktaufnahme mit niederländischen Täufern, die dann in Münster einsickern, weil hier die Entwicklung schon nicht mehr in lutherischen Bahnen verläuft. Das ist das Jahr 1533. Münster bot für die Täufer einen idealen Nährboden, denn die Stadt ist nahe den Niederlanden – es gibt also keine sprachlichen Probleme, man versteht sich, denn das Niederländische und das Mittelniederdeutsche ist kompatibel – und die Stadt ist, durch einen Vertrag mit dem Bischof von Münster, in der lutherischen Glaubenspraxis frei. Das heißt, hier herrscht tatsächlich schon eine lutherische Stadt in der Region, so dass sie in der Lage ist, diese neuen Gedanken aufzunehmen. Rothmann ist dann derjenige, der die Bewegung in Münster radikalisiert. Unter seiner Führung löst man sich allmählich von den lutherischen Kerngedanken – das passiert noch im Jahr 1533 – und ermöglicht damit auch die Predigt der Wiedertäufer. Wir sollten allerdings besser sagen Täufer, denn Wiedertäufer ist ein Begriff, der negativ konnotiert ist.
Q History: Sie sagten eben, dass die Täufer eine neue religiöse Bewegung waren. Was machte sie denn so besonders, und warum wurden ihre Ideen so schnell in Münster aufgenommen?
Werner Freitag: Das hat zunächst mit dem radikalen Verständnis des Christentums von Rothmann zu tun, der sich von den lutherischen Gedanken löst, insbesondere vom lutherischen Sakramentsverständnis. Das heißt, dass er das Sakrament des Abendmahls und der Taufe neu versteht, und somit auch die Entscheidungstaufe – sprich, die Erwachsenentaufe – im Laufe der Zeit favorisiert. Man muss zum Zweiten sagen, dass die Täufer, zumindest in einer bestimmten Phase, sehr stark endzeitlich orientiert sind. Das heißt, man versucht auch durch die Erwachsenentaufe, sich auf die Wiederkunft Christi vorzubereiten, und diese Wiederkunft Christi ist nahe. Das ist das eigentliche Movens der Täuferaktivitäten in den Niederlanden, in Straßburg, und dann eben auch in Münster. Es geht darum, bereit zu sein für die Wiederkunft Christi, man bewegt sich in den Gedankenbahnen der Offenbarung des Johannes.
Im Jahre 1533 verbindet sich dann die sehr spiritualistische Theologie von Rothmann mit den täuferischen Gedanken. Nun sieht man die Möglichkeit der Erwachsenentaufe, als eine bewusste Entscheidung, vor, um sich auf das Reich Christi vorzubereiten. Zu diesem Zeitpunkt war die Stadt Münster theologisch noch dreigeteilt: wir haben noch die altgläubigen Katholiken, die durch den Vertrag mit dem Bischof Bestandsschutz hatten – der sogenannte Dülmener Vertrag aus dem Frühjahr 1532 -, wir haben die Lutheraner, die ihre Predigten in den Pfarrkirchen hatten – Münster war also 1533 eine lutherische Stadt, mit lutherischen Gottesdiensten in den sechs Pfarrkirchen, was vom formal katholischen Bischof anerkannt worden war, und wir haben schließlich eine Untergrundströmung der Täufer, die aus dem Westmünsterland und Holland in die Stadt einsickert.
Q History: Wenn die Lutheraner schon in den Kirchen gepredigt haben, auf welche Weise haben denn dann die Täufer ihre Ideen unter das Volk gebracht?
Werner Freitag: Die Täufer arbeiten mit Prophetie. Das heißt, nicht mehr der Schriftbezug und die Interpretation der Schrift ist entscheidend, sondern die unmittelbare Gottesschau, die Eingebung. Die Propheten treffen in Münster dann auf Rothmann, der hochgebildet und theologisch versiert ist. Er hat in Wittenberg studiert, war in Straßburg – hatte also Kontakt mit führenden Zentren der Reformation – und entwickelt nun eine neue Theologie, die zu dem täuferischen Ansatz der Endzeit kompatibel ist. Die Endzeiterwartung der Täufer bestand am Anfang daraus, dass das himmlische Jerusalem gesucht und für die Wiederkunft Christi vorbereitet werden soll. Die Wiederkunft wird von dem Propheten Bockelsen auf Ostern 1534 prophezeit. Und die Stadt, die dafür ausersehen wird – weil es in anderen Städten nicht geklappt hat – ist jetzt Münster das neue Jerusalem. Das alles hat mit der Polygamie noch gar nichts zu tun, sondern wir sind im Rahmen eines radikalen – wir würden von heute aus sagen: sektenmäßig organisierten – Christentums, was zurück zum Urchristentum, zur Liebesgemeinschaft der Apostel und zur Apostelgeschichte, und man ist erfüllt von der Entzeiterwartung. Diese Entzeiterwartung wird 1533 / 1534 durch Himmelserscheinungen unterstützt. Und diese Himmelserscheinungen – das können drei Sonnen, Pferde oder Städte sein – werden auf die Offenbarung des Johannes bezogen. In Folge dessen gärt es in der Stadt, die – nachdem sich das Ganze Richtung Täufertum entwickelt hat, und die lutherische Partei allmählich in den Hintergrund tritt – von prophetischen Rufen erfüllt wird.
Q History: Wie genau muss man sich das vorstellen mit diesen prophetischen Rufen? Und was für Leute waren eigentlich diese Propheten?
Werner Freitag: Sie müssen sich vorstellen, dass an bestimmten Wegmarken der Täufergeschichte Propheten durch die Stadt gehen und schreien: „Tut Buße, tut, Buße, das Ende ist nah!“ Und das sind nicht nur Männer – also Prädikanten, Experten des Glaubens – sondern zunehmend auch Laien – sowohl Zugewanderte, als auch Teile der Münsteraner Bürgerschaft – und es sind Frauen. Die Geschichte der Wiedertäufer ist voller Geschehnisse, in denen Frauen als Prophetinnen auftreten. Die Mischung besteht also aus Buße, Naherwartung der Wiederkunft Christi, der Parusie, und zunächst einem sehr rigorosen Eheverständnis. Man muss wissen, dass die Reformation eigentlich das Ereignis ist, welches die Ehe nochmals erheblich aufwertet. Für Luther und alle anderen Reformatoren ist die Ehe eine zentrale Instanz, denn auch der Klerus soll ja heiraten, um damit das Konkubinat und die Unkeuschheit aufzugeben. Es sollen also alle in den Ehestand, die als geheiligte Einrichtung Gottes wahrgenommen wird. Und das bedeutet umgekehrt, dass all das, was neben dem Ehestand existiert, wie etwa das Konkubinat, aber auch Prostitution, verboten werden soll. Das bedeutet einen erheblichen Rigorismus in Bezug auf die Ehe, die nicht mehr Sakrament ist, aber ein von Gott gewollter Stand. Und dieser moralische Rigorismus im Hinblick auf das Zusammenleben von Mann und Frau durchzieht noch das ganze Jahr 1533. Die Täufer sind zunächst, am Anfang, nicht auf Polygamie aus, sondern verfolgen ebenso noch diesen harten Kurs. Das wird daran deutlich, dass wir 1533, in der lutherischen Phase, zunächst noch eine Zuchtordnung haben. Die sieht vor, dass Zuchtherren, also Kontrollorgane des Rates, auf die Einhaltung der Ehegesetzgebung achten sollen, und auch gegen „Hurerei“ vorgehen sollen. Und die Täufer, die zunächst vom Rat toleriert werden, sind ebenso für die Einhaltung der Ehe. Ende 1533 stellen sie sogar Ehebruch unter Todesstrafe, wollen also noch sehr rigide für die Einehe vorgehen. Das ist also der Schnitt, den wir Ende 1533, Anfang 1534 ziehen müssen, denn jetzt kommt es zur Einführung der Vielehe.
Q History: Wie wurden die Täufer in ihren Anfangstagen denn von den anderen Religionsgemeinschaften wahrgenommen? Schließlich wurden sie später ja rigoros verfolgt.
Werner Freitag: Zunächst müssen Sie sich das reichsrechtlich vor Augen führen: anerkannt ist in einer bestimmten Phase – nach 1530, 1531 und 1532 auf den Reichstagen und in Reichsabschieden – das Luthertum, solange die Obrigkeit, also der Landesherr, das akzeptiert. Es gibt demnach nur ein anerkanntes neues Bekenntnis, nämlich das Luthertum – alles andere ist nicht erlaubt. Und die Streitigkeiten innerhalb des Luthertums, über Abänderungen oder neue Formulierungen, sind ein Prozess, der natürlich im Luthertum selbst zu Auseinandersetzungen führt. Das heißt, sie haben eine doppelte Gegnerschaft gegen die Täuferbewegung: einerseits von Seiten des Augsburger Bekenntnisses und der Reformatoren – die natürlich gegen sämtliche Abweichungen, wie etwa Bilderstürme, protestieren, und dagegen vorgehen wollen – und andererseits von Seiten des Reichsrechts und aller, die sich daran halten wollen.
In Münster ist es so, dass das Bekenntnis der Täufer erst recht nicht anerkannt ist, weil der Bischof von Münster, Franz von Waldeck, für die Stadt Münster nur das lutherische Bekenntnis im Sinne Rothmanns erlaubt hat – nicht mehr und nicht weniger. Es dürfen also – so steht es in dem Vertrag, den der Bischof mit dem Rat der Stadt aufgesetzt hat – Katholiken und das neue Bekenntnis, in dem – so ist die Formulierung -, das Evangelium lauter und klarer verkündet wird, nebeneinander existieren. Alles andere darf nicht existieren. So hat hier der Bischof als Stadtherr reichsrechtliche Befugnis, weil einerseits die Täuferbewegung gegen das Reichsrecht verstößt, und er andererseits sagen kann: die Stadt hat gegen den Vertrag, den ich mit ihr geschlossen habe, verstoßen. Es gibt also zwei Ansatzpunkte des Bischofs, gegen die Stadt vorzugehen, und so holt er sich auch die Unterstützung im Reich. Dass das Ganze als herrschaftsgefährdend für das gesamte Reich wahrgenommen wird, ist eh klar. Die Theologie ist aufgrund der Naherwartung theokratisch ausgerichtet – die Täufer machen keine Unterscheidung mehr zwischen weltlich und geistlich, es gibt keinen Rat mehr als Obrigkeit, sondern nur noch die Nähe Christi, auf die alle Maßnahmen ausgerichtet sind. Das ist für die bestehende Verfassung, sowohl in den bestehenden Territorien, als auch für das Stadtregiment des Rates, im höchsten Maße gefährlich.
Q History: Sie sprachen gerade davon, dass die Täufer an das baldige Ende der Welt glaubten. Es gibt ja Berichte von Visionen einzelner Täufer, die Himmelszeichen gesehen haben wollen. Waren das Einbildungen religiöser Ekstase oder lassen sich diese Zeichen auch woanders belegen?
Werner Freitag: Also die Himmelszeichen werden von anderen auch berichtet. Die Chronistik der Zeit berichtet immer wieder von Himmelserscheinungen – es werden Kometen gesehen, die drei Sonnen werden anderswo auch wahrgenommen. Das heißt, das ist nicht nur auf Münster beschränkt. Das Entscheidende für Münster aber ist, dass die Zeichen mit der Offenbarung des Johannes und alttestamentarischen Prophetien verbunden werden. Das heißt, sie werden auf die jetzige Situation in der Stadt angewandt. Und die tatsächliche Bedrohungssituation – 1534 beginnt die Belagerung der Stadt – führt natürlich auch dazu, dass die Bereitschaft steigt, den normalen Zeithorizont zu verlassen, und sich in den apokalyptischen Bahnen zu bewegen. Das wirkt unterstützend für das Regiment der Täufer, das nun im Herbst 1534 eingeführt wird. Für das alles gibt es eine unmittelbare Bereitschaft, die durch Prophetie gestützt wird. Es gibt immer wieder Prophezeiungen, bei denen die führenden Köpfe der Bewegung – und dazu gehören auch Frauen – als Propheten aktiv sind. Aber der Prophet braucht zu seiner Legitimation immer eine Vision, auf die er sich berufen kann, und die nur er allein interpretieren kann. Und da sind wir wieder bei Rothmann angekommen, der in seinem Theologieverständnis nicht nur sehr stark auf die Schrift abgehoben hat, sondern auch sehr stark spiritualistisch argumentiert hat. Das heißt, er hat sehr stark auf die unmittelbare Geisteingebung gesetzt. Dann kommt hinzu – was die Situation in Münster, möglicherweise auch die Empfänglichkeit für Prophetie, nochmals verändert -, dass wir im Jahr 1534 einen sehr einschneidenden Bevölkerungsaustausch haben. Die Lutheraner der Stadt, die eigentlich durch den Dülmener Vertrag geschützt sind, ziehen sich aus der Stadt zurück. Sie gehen entweder zu den Täufern über und erleben die jetzt praktizierte Erwachsenentaufe – die in Gebetshäusern stattfindet, denn die Kirchen haben inzwischen ihre Funktion verloren -, oder sie verlassen die Stadt. Und von außen, aus dem ganzen westfälischen Bereich – auch aus Landregionen und kleinen Städten, vor allem aber aus dem westlichen Münsterland und aus den Niederlanden -, kommen die Täufer. Die sind als Bewegung, zumindest am Anfang, eine friedliche Gruppe, und ziehen jetzt mit ihren Endzeiterwartungen in dieses „Neue Jerusalem“. Dort herrscht aber immer noch die rigide Einehe.
Q History: Ab wann entwickelt sich das Ganze dann hin zur Polygamie?
Werner Freitag:Der Weg zur Vielehe ist noch nicht vorgezeichnet. Das passiert erst, als sich das Regiment der Täufer dahingehend ändert, dass der Rat – die klassische Stadtherrschaft – abgeschafft wird. Der Rat war auch schon vorher täuferisch durchdrungen, und hat die Täufer auch durch ein Toleranzedikt im Januar 1534, zusammen mit den Lutheranern und Katholiken, akzeptiert. Aber dann gibt es einen Wandel der Regierungsform, denn jetzt ist man in den Bahnen des Alten Testaments, der Zwölf Ältesten. Jetzt bewegt man sich also sowohl am Ende des Neuen Testaments, in der Offenbarung des Johannes, als auch in den Bahnen des Alten Testaments. Wir haben eine Königsherrschaft – der Prophet wird König -,
wir haben einen Wechsel nach Ostern 1534, als die Prophezeiung der Wiederkunft Christi und der Rettung der Stadt durch ihn nicht eintritt, und Brockelsen, der Prophet, verlässt die Stadt, und wird von den Söldnern des Bischofs grausam zerstückelt. Jan von Leiden, der zweite Prophet, übernimmt das Regiment, und beschreitet den Weg vom Prophetentum zum Königtum. Jetzt bewegt man sich von Seiten des Zeithorizontes und der Theologie nicht nur in dem Rahmen, dass man das Neue Jerusalem durchsetzen möchte, um für die Wiederkunft Christi bereit zu sein, sondern man sagt jetzt: wir sind im Alten Testament, es gibt ein Strafgericht – um uns herum ist die Belagerung -, und jetzt haben wir die Zwölf Ältesten und die Königsherrschaft. Das ganze Regiment wird also nach alttestamentarischem Vorbild durchgeführt. Und der König ist – wie David – Herrscher in weltlichen, als auch in geistlichen Dingen. Jetzt ist es evident, dass der Weg zur Vielehe beschritten werden kann. Dazu müssen noch einige Stufen überwunden werden, also weitere Prophetien, aber das Ganze läuft im Sommer 1534 auf die Vielehe hinaus. Die wird dann nicht mehr als Gesetz, sondern in Form der Predigt verkündet. Also: in einer aufgeheizten Situation, von den Feinden umschlossen, belagert – die ersten Belagerungen und Angriffe sind abgewehrt worden -, weiß man, dass der strafende, zürnende Gott auf der Seite der Täufer ist. Und jetzt fangen die führenden Täuferprediger an, auf den Plätzen für die Einführung der Vielehe zu predigen – allerdings natürlich nur in Bezug auf Männer.
Ein Mann darf und soll jetzt mehrere Frauen haben. Herangezogen werden dafür alttestamentarische Vorbilder, wo die Patriarchen auch mehrere Frauen hatten. Dahinter steckt der biblische Gedanke der Vermehrung: wachset und vermehret euch. Die Vorbilder für die Polygamie sind die Patriarchen und die israelitischen Könige. Jetzt könnte argumentiert werden, dass das auch reale Gründe für die Einführung der Vielehe hatte, also konkret: der sogenannte Frauenüberschuss, den wir tatsächlich in der Stadt hatten. Beim Gastmahl des Königs, dass hier auf dem Domplatz stattfand – der Domplatz hieß jetzt Berg Zion, der Dom war inzwischen zerstört, und es findet ein großes Gastmahl statt, an dem Tausende teilnahmen -, lebten in der Stadt – laut dem Chronisten Kerssenbroick – 1.600 wehrfähige Männer, 400 Alte und Knaben, und 5.000 Frauen.
Q History: Nun, das klingt doch auch sehr plausibel…
Werner Freitag: Das ist, glaube ich, nicht das entscheidende Argument, sondern es ist erst einmal ein sehr patriarchalisches Verständnis von Ehe, aus dem Alten Testament her rührig: die Frauen sollen ihren Männern Untertan sein, sie müssen gehorchen, und das Ganze ist eine Zwangsveranstaltung: wenn der Prophet Frauen Männern zuweist, muss das akzeptiert werden, und die Frauen dürfen sich nicht verweigern – auch nicht in sexuellen Dingen. So ist das Ganze gedacht, es ist nicht mehr der Rigorismus der Reformation auf die Einehe, der beiden Rechte und Pflichten auferlegt, und Ehebruch von beiden Seiten aus streng bestraft. Stattdessen ist es ein archaischeres Verständnis von Ehe, wohinter sich dieses ‚Mehret Euch‘ versteckt, aber auch eine strikte Unterordnung der Frauen unter die Männer. Die Frauen, die sich den Männern verweigerten, konnten und mussten bestraft werden. Eines der Klöster in der Stadt, das Kloster Rosenthal, wird als Frauengefängnis genutzt. Das heißt, die Frauen, die sich weigerten, diese Ehe einzugehen, kamen in dieses Gefängnis. Es gibt auch Widerstand von Männern gegen die Einführung der Vielweiberei. Das passiert kurz nachdem diese Predigten stattfinden, und der König diese Eheschließungen vornimmt. Der König nimmt sich selber übrigens auch dreizehn oder vierzehn Frauen, eine Hauptfrau – die Witwe seines Vorgängers -, und weitere ‚Krebsweiber‘, wie es in den Quellen steht. Er wohnt mit seinem Harem direkt auf dem Domplatz, da ist sein Haus mit dem entsprechenden Frauenhaus. Es gibt in der Bürgerschaft, auch innerhalb der Täuferschaft, Widerstand, und es kommt zu einem Aufstand eines Teils der männlichen Täufer gegen die Einführung der Vielehe. Im Juli 1534, nachdem das Ganze verkündet wurde, sind es unter der Führung des Schmieds Mollenhack zweihundert Männer, die dagegen protestieren. Es gibt auch Tumulte auf dem Markt, letztlich unterliegen sie, und fünfundzwanzig von diesen 200 werden dann mit dem Schwert – zum Teil durch Knipperdolling, der als Henker fungiert -, hingerichtet. Es gibt auch Widerstände von Frauen, die dann entweder aus der Stadt flüchten, oder eben in diesem Gefängnis landen.
Q History: Sie sprachen anfangs davon, dass auch es auch Frauen gab, die die Herrschaft der Täufer unterstützt haben. Wie war denn die Reaktion der Prophetinnen und anderer Frauen auf die Einführung der Polygamie?
Werner Freitag: Sie tauchen in den Quellen immer nur an entscheidenden Punkten auf. Die entscheidenden Predigten, Prophezeiungen und Richtungsänderungen werden natürlich vom König und seinen Unterpropheten vorgenommen. Aber sie unterstützen das Ganze. Man kann jetzt Überlegungen anstellen in Bezug auf die Akzeptanz dieser Vielehe. Aus der Perspektive der Frauen könnte man fragen: lassen sie sich darauf ein? Das ist natürlich sehr schwierig, weil unsere Quellen sehr tendenziös sind. Man kann aus der Rückschau sagen, dass viele Frauen überlebt haben. Die Männer werden nach der Eroberung der Stadt im Juni 1535 von den bischöflichen Truppen in einem fürchterlichen Gemetzel getötet, und die Frauen sind eigentlich geschützt. Diejenigen, die nicht in der Verteidigung aktiv waren, können Abbitte leisten, und tun das dann auch. Das ist ein wichtiger Punkt, dass die also die Chance hatten, ein neues Leben anzufangen. Wenn man jetzt in das Geschehen selbst hineinschaut, und noch einmal fragt, inwieweit die Täufer, auch im Jahr 1534, von Frauen unterstützt werden, scheint mir ein wichtiger Punkt zu sein, dass die Propheten und die Täuferherrschaft tatsächlich wesentlich mit gestützt werden. Wie das mit der Vielehe war, bleibt offen, aber wir sehen bei bestimmten Maßnahmen Unterstützung. Ich will zwei Beispiele erwähnen, weil wir darin wieder das Vorbild des Alten Testaments sehen. Es gibt eine Dame, die von dem alttestamentarischen Vorbild der Judith angeregt ist, und in das gegnerische Lager geht, um dort einem der führenden Gegner – entweder dem Bischof oder dem Feldherrn -, den Kopf abzuschlagen. Das nur als ein Beispiel. Oder: als es in der Stadt Tumulte gibt, Opposition gegen die Täufer, sind es oft Frauen, die sich von ihren Männern abwenden, und ihre Männer, die gegen die Täuferherrschaft oder gegen bestimmte Maßnahmen revoltierten, tatsächlich den Täufern mitteilen – und damit auch der täuferischen Gerichtsbarkeit überantworten. Und gerade bei diesem Aufstand der zweihundert Männer sind es Frauen, die angeblich die Kanonen von stadtauswärst nach stadteinwärts ausrichten, um den Aufstand niederzuschlagen. Die helfen auch bei der Logistik mit, stehen auf den Zinnen der Stadtmauer und sind bei bestimmten Bereichen in der Verteidigung der Stadt aktiv.
Q History: Es reicht wahrscheinlich nicht aus zu sagen, dass ein Mann mehrere Frauen haben konnte. Wie kann man die Vielehe in Münster genauer charakterisieren?
Werner Freitag: Es ist ein sehr patriarchalisches Bild, was wir hier haben: einem Mann stehen mehrere Frauen zur Verfügung – es ist im Übrigen auch seine Verpflichtung, mehrere Frauen zu haben -, und die Frauen müssen dem Mann Untertan sein, und sich diesem Gebot, sowie der Zuweisung an diesen Mann, fügen. Man könnte jetzt noch einmal auf Sexualität eingehen. Die Berichte sind tendenziös, aber der Vorwurf der katholischen Geschichtsschreibung im Nachhinein war, dass die Frauen permanent verfügbar sein mussten. Da gibt es lange Passagen in der Darstellung von Kerssenbroick, wo er berichtet, dass die ‚Geilheit‘ der Männer – so wird es übersetzt – immer befriedigt werden muss, ganz egal, in welchem Zustand sich die Frau befindet. Es gibt eine heilkundige Frau, so wird berichtet, die diese Frauen dann pflegen muss. Es gibt entsprechende Krankheiten, es wird angedeutet, dass es Geschlechtskrankheiten gibt, dass es – aufgrund dieser körperlichen Misshandlung – natürlich auch Verletzungen gibt, von den psychischen Schäden einmal ganz abgesehen, und dann wird zwei Seiten lang über das Leid der Frauen berichtet, weil Männer voll dieser Begierde durch die Straßen gingen, und sich genommen haben, was sie wollten. So wird berichtet. Ob das tatsächlich der Fall ist, ist eine ganz andere Geschichte. Das können auch Topoi sein, auf jeden Fall wird, zumindest was die gesundheitlichen Folgen betrifft, mit Namen argumentiert. Und es wird auch sehr böse berichtet, dass selbst junge Mädchen mit elf, zwölf Jahren zur Verfügung stehen mussten. Aber überlegen wir jetzt noch einmal, wie das mit der Akzeptanz der Täufer generell aussieht. Bei diesem Gastmahl auf dem Domplatz – da soll ein großes Abendmahl Christi nachgeahmt werden – sind auch Frauen beteiligt. Es gibt nachher dann noch Tanz und einen orgiastischen Teil, und da wird eben deutlich: da gibt es tatsächlich so etwas wie Zustimmung. Das müssen wir festhalten. Wie das jetzt bei der Vielehe ist, das wäre die Frage, aber es wird von vielen Frauen berichtet, die als Zweit-, Dritt- oder Viertfrau eines ehemals angesehenen münsterischen Bürgers auftauchen. Es gibt auch den sehr spannenden Bericht aus dem Kloster Überwasser, wo von den zwölf oder dreizehn Nonnen neun oder zehn zu den Täufern überlaufen. Und die heiraten dann auch tatsächlich unter dem Einfluss Rothmanns. Das heißt, dass gerade aus dem Bereich der Religiosen und der Semireligiosen, der Nonnen und Beginen, und der Devotio Moderna, einige Frauen in das Lager der Täufer wechseln. Das kann man nicht genau festmachen, aber auch da gibt es Akzeptanz.
Q History: Waren die Ehefrauen eines Mannes untereinander gleichberechtigt, oder gab es so etwas wie eine Erst- und eine Zweitfrau? Und was passierte eigentlich mit Witwen?
Werner Freitag: Also man muss sich da auf Kerssenbroick verlassen, und bei dem ist der einzige Unterschied, der gezogen wird, der zwischen der Königin und den Krebsweibern, dem Harem des Königs. Da wird ein ganz klarer Unterschied gemacht. Auch bildlich: in der Propaganda sieht man die Königin geschmückt, und die anderen Frauen haremartig darum herum. Die Zahlen, die dann zu lesen sind, handeln meistens von drei oder vier Frauen, also es ist nicht so, dass die anderen Männer einen besonders großen Harem hatten. Und es bleiben auch – einfach zahlenmäßig – unverheiratete Frauen und Witwen übrig.
Q History: Luther hatte während der Reformation die Rolle der Ehe ja besonders betont und sogar selbst geheiratet. Wie konnte sich die Idee der Vielehe in einer so streng monogamen Gesellschaft überhaupt durchsetzen?
Werner Freitag: Das kann man, glaube ich, nur vor dem Hintergrund dieser Endzeiterwartung interpretieren. Es geht ja nicht nur um Endzeiterwartung, sondern es gibt auch eine Dynamik hin zu einer Sekte. Die Täuferbewegung an sich ist friedlich und radikalisiert sich unter dem Eindruck der Belagerung von außen, und aufgrund dieser Endzeiterwartung. Dass ein Mann mehrere Frauen haben darf – das ist am Anfang dieser Bewegung noch gar nicht vorgezeichnet, sondern geschieht erst unter diesen münsterischen Verhältnissen, und der zunehmenden religiösen Erwartungshaltung, Die hebt sehr stark auf unmittelbare Geisteingebung, auf Prophetie, ab, und bewegt sich in den Bahnen des Alten Testaments. Anders kann man das, glaube ich, nicht interpretieren. Die Bewegung wird sehr stark gestützt, weil sie den Frauen auch Räume eröffnet – nicht im Sinne der neuen Formen der Eheschließung, sondern im Sinne von Betätigungsfeldern, im Sinne von Teilhabe an dieser Täuferherrschaft. So bestehen hier bestimmte neue Handlungsräume von Frauen, die unseren klassischen Interpretationsmustern überhaupt nicht entsprechen, und sich auch im Sinne von Emanzipation völlig quer zu diesen uns geläufigen Kategorien befinden.
Q History: Könnte man die extreme Ausrichtung der Täufer nicht durch deren Endzeiterwartung erklären? Wer auf die Apokalypse wartet, beschäftigt sich doch nicht mit den langfristigen Aspekten seiner Herrschaft. Oder?
Werner Freitag: Nein, die Erwartung richtet sich natürlich auf die Endzeit, die Wiederkunft Christi, möglicherweise auch das Tausendjährige Reich – wobei sie diesen Ausdruck in den Selbstbezeichnungen nur selten benutzt haben. Vor allem aber erwarten sie, weil sie sich in den Bahnen des Alten Testaments bewegen, den strafenden Gott. Das ist das Entscheidende, und das steht natürlich bevor. Und sie sehen ihren Sieg – nachdem sie sich zweimal gegen Angriffe der Belagerer erfolgreich verteidigen können – als Bestätigung, dass Gott jetzt schon die Nichtauserwählten straft. Insofern ist es eine Naherwartung, die nicht nur sagt: wir sind die Auserwählten Christi, sondern die immer auch vom Gericht ausgeht.
Q History: Die Kombination Wiedertaufe und Polygamie taucht ja nicht nur bei den Täufern in Münster auf. Im 19. Jahrhundert lässt sich die Glaubensgemeinschaft der Mormonen, nach ihrer Vertreibung aus dem Osten der USA, in Utah nieder. Daraufhin folgen extreme Dürreperioden und die Einführung der Polygamie sowie der Wiedertaufe. Kann man also sagen, dass die lebensbedrohliche Situation wie Hunger oder Dürre die Einführung von Polygamie in Münster erst möglich gemacht hat?
Werner Freitag: Die eigentliche Aushungerung der Täufer beginnt aber nicht zu Zeitpunkt der Verkündigung – wobei da natürlich auch schon Aushungerung stattfindet -, sondern erst mit der Eroberung, also fast ein Jahr später. Da beginnt man erst, Hunde und Katzen zu essen, Gras von der Erde aufzusuchen, und so weiter. Das heißt, der eigentliche Hungerprozess ist erst ein Phänomen des Jahres 1535. Also nicht am Endpunkt wird die Vielehe eingeführt – dann könnte man natürlich über relative Deprivation nachdenken -, sondern in einer Phase der Bedrohung, wo aber noch der Unterhalt gesichert war. Sonst wäre ein opulentes Gastmahl auch gar nicht möglich gewesen.
Q History: Herr Freitag, wir danken für dieses Gespräch.
Die Fragen stellen Henrik Kipshagen und Philipp Spreckels.
Foto: copyright by Philipp Spreckels
Bildquellen: Stadtansicht Münsters: Georg Braun und Franz Hogenberg, Kirchenfenster Erhebung der Toten: St.-Chapelle, Taufszene mit Jan van Leyden: Franz Baehr, Portrait Jan van Leydens: Heinrich Aldegrever, Portrait Knipperdollings: Heinrich Aldegrever, Hinrichtung der Täufer: Hermann von Kerrsenbroick, Geschichte der Wiedertäufer zu Münster in Westphalen.
[…] from the Münster Anabaptists there were other groups, who had taken polygamy into their belief system. One of those groups were […]